Dr. Heidrun Kaletsch - Gott spricht: Ich will sie heilen (Jes 57,19) - Gesundheit und Krankheit - Predigt am 29. August 2020


Liebe Gemeinde,
vielen Dank für die Einladung, meine Gedanken über Heilung mit Ihnen und Euch zu teilen.
Meine Ansprache gliedert sich in drei Abschnitte, die das Thema „Wunder und Heilung“ aus verschiedenen Perspektiven betrachten.
Im ersten Teil geht es um die sogenannte „Wunderfrage“ aus meiner therapeutischen Praxis.
Im zweiten Teil betrachte ich die Wunderheilung des Lahmen, von der wir in der Lesung gehört haben.
Im dritten Teil geht es um unser aller Teilhabe am Wunder.


1.Ich arbeite als Psychotherapeutin. Die Menschen, die zu mir kommen, nennen oftmals ein zentrales Problem, das Anlass für die Therapie ist. Sie schildern, wie das Problem entstanden ist, wie es größer, wie es zur Last wurde, schwerer mit den Jahren, wie sie zunächst versucht haben, es zu lösen und später, es nur noch loszuwerden, sie sprechen über Hoffen und Scheitern, Erwartungen und Enttäuschungen.
Oft steht dann eine neue Hoffnung im Raum, die Hoffnung, die Therapie, oder besser noch, die Therapeutin könne nun diese Last von den Schultern nehmen. Und zugleich sind da Zweifel: wenn meine Heilungserwartung bisher immer enttäuscht wurde, was soll das jetzt noch bringen?
Dann lade ich meine Klienten zu einem kleinen Gedankenexperiment ein mit der sogenannten „Wunderfrage“: Stellen Sie sich vor: heute Nacht, während Sie tief und fest schlafen, kommt eine Fee in Ihr Schlafzimmer, ganz heimlich, still und leise holt sie Ihr Problem ab und wenn Sie am nächsten Morgen aufwachen, ist


ihr Problem verschwunden. Einfach weg. Woran werden Sie zuerst merken, dass Ihr Problem weg ist? Was konkret wird anders sein? Wer in Ihrer Familie wird als erster bemerken, dass Ihr Problem verschwunden ist? Woran?
Auf die Wunderfrage eine Antwort zu finden ist weder einfach noch ungefährlich. Denn wenn ich diese Frage beantworte, werde ich vom Problemopfer zum Lösungstäter. Ich bin nicht länger das Opfer meines Problems. Das Problem ist ja verschwunden, und ich muss die Leerstelle füllen, die es hinterlassen hat. Was lasse ich an die Stelle des Problems treten, wenn das Problem weg ist? Meine Entscheidung! Meine Verantwortung!
Die Wunderfrage ist alles andere als harmlos, und die Vorstellung, auf einmal ohne das vertraute Problem dazustehen, kann sich ziemlich ungewohnt und fremd anfühlen. Also mache ich die Gegenprobe und frage: jetzt mal angenommen, sie wollten das Problem zurückhaben - was müssten Sie tun?
Zu 90% kommt die Antwort darauf sofort, wie aus der Pistole geschossen – wir wissen im Grunde alle, was unsere Probleme aufrechterhält und was wir selbst dazu tun.


2.Damit komme ich zum zweiten Teil, zur Wunderheilung des Lahmen.


Als ich vor einigen Jahren in Jerusalem am Teich Bethesda war, habe ich über die Geschichte des Lahmen meditiert und möchte Ihnen meine Betrachtung mitteilen.
In meiner Vorstellung liegt der Lahme immer am gleichen Platz in der Säulenhalle, seit 38 Jahren. Er kennt den Ort bei jedem Licht, hat Generationen kommen und gehen, kriechen und springen sehen. Er kann routiniert davon erzählen, unzählige Dramen und Anekdoten, und die jungen Leute, die ihm zuhören, schwanken zwischen gutmütigem Spott und Ehrfurcht. Manche holen sich Rat bei ihm. Er ist eine Konstante im Betrieb, man weiß, wo man ihn findet,


allein das ist schon eine Qualität unter den Menschen, und er kennt sich aus in seinem kleinen Kosmos der Händler, Badenden und Siechen. Manchmal, wenn die Wellen kommen, dann nehmen ihn ein paar junge Kerle auf die Schultern und rennen los, aber irgendwas geht immer schief. Sie erreichen das Becken zu spät oder brechen vorher vor Lachen zusammen. Und der Lahme lacht mit, lacht über den bitteren Kern in seinem Herzen hinweg, den er in der Halbherzigkeit der Aktion schmerzhaft spürt. Es kann nicht klappen. Aber es hat immerhin den Unterhaltungswert verpatzter Rituale. Nein, nach 38 Jahren rechnet er mit keiner Veränderung mehr. Und da kommt eines Tages, mitten in die Sabbatruhe hinein einer und steht vor ihm und schaut. Schaut so, dass der Lahme nicht hochblicken mag. Aber der Mann geht nicht weiter, er geht in die Knie, hockt sich zu ihm, und da blickt er auf. Der andre schaut ihn ruhig und nüchtern an, und in seinem Blick dehnt sich der Moment, so hat ihn noch keiner angesehen, und sein Herz pocht so laut, dass er Mühe hat zu hören, was der andere sagt:
-Willst du gesund werden.
Willst du gesund werden. Der Blick des anderen unverwandt in seinem. Unerhört, diese Frage. Angesichts der 38 Jahre, die hinter dem Lahmen liegen, er hatte sich organisiert in seinem Unglück, ein ganzes Leben liegt hinter ihm, ein lahmes Leben, er hat es gelebt und jetzt dies. Willst du gesund werden. Was für eine Frage. Und er hört sich sagen:
-Ich habe keinen Menschen, der mich trägt…
Und nähme den Satz, kaum, dass er gesagt ist, gern wieder zurück, denn da liegt sie jetzt, nackt und bloß, die ganze Bitterkeit seines Lebens liegt in diesem Satz. Da ist keiner, der mich trägt. Er wendet den Blick ab. Er kann ihn nicht halten. Er sehnt sich danach, sich in den Blick des anderen fallen zu lassen, so sehr sehnt er sich danach, wie ein Verdurstender in der Wüste. Aber der Blick des anderen lässt ihn nicht fallen, sondern richtet ihn auf, und das erträgt er nicht.
-Steh auf. Nimm dein Bett und geh.


Das hat er nicht erwartet. Das zuallerletzt. Will er das? Jetzt noch? Ist das nicht lächerlich, als Option, nach all den Jahren? Und doch ist etwas in dem Sprecher und in der Stimme und in dem Satz, das ihn in Bewegung bringt, er rappelt sich hoch, steht frei, bückt sich ohne Hilfe nach seiner Heimstatt, der alten Matte, greift sie, sie ist seltsam leicht, niemand hilft ihm, niemand trägt ihn, er trägt die Matte, steht da, mit der Matte in der Hand, die Bitterkeit seines Herzens füllt ihm den Hals. Ich glaube, dass er laut wird, seufzt oder stöhnt, vielleicht schreit er auch, aber nicht lang. Seine Stimme steht für einen Moment in der klaren Morgenluft. Die vertrauten Becken plötzlich fremd, die staunenden Menschen um ihn her fremd. Dann ist es still. Fremd auch er. Sein Blick beginnt zu schwimmen, es verschwimmt der Frager, der vor ihm steht, dieses Du, verschwommen nimmt er wahr, der andre nickt ihm zu. Er meint die Knie müssten ihm versagen an der Vertrautheit dieses Grußes, aber er steht. Der andere geht weiter. Und wieder meint er fallen zu müssen an dem Loslassen des anderen, nicht vor Schwäche jetzt, sondern aus Seligkeit, losgelassen zu sein, entlassen in die Einsamkeit, die der ihm zutraut, ihm! Er ist fassungslos vor Glück für einen winzigen Moment. Dann sehen seine Augen wieder klar. Der andere ist gegangen. Da nimmt er seine Matte und geht, auch er - auch ich, jubelt es in ihm - er darf, er wird dem Wunder seine Richtung geben.


Bis hier her. (Die Geschichte nimmt noch einen interessanten Fortgang, aber das würde unseren Rahmen sprengen.)
Was ist hier das Wunder? Es ist eine Enttäuschung. Der Lahme hatte sich getäuscht in seiner Heilungserwartung. Er hatte gedacht, es müsse einer kommen, der ihn trägt. Aber da kommt einer, der ihn nicht trägt, sondern aufrichtet. Der ihm zutraut, auf eigenen Beinen zu stehen, Entscheidungen zu treffen, Verantwortung zu tragen für sein Leben.


Der Lahme wird enttäuscht. Jesus macht ihn vom Problemopfer zum Lösungstäter. Denn vor dem Mann liegt nun ein neues, noch fremdes Leben, das tatkräftig bewältigt werden will.
Gern würde ich den Geheilten fragen: Angenommen, Sie wollten die Lähmung zurückhaben, was müssten Sie tun? Ich bin sicher, er hätte sofort die Antwort.


3.Wir alle haben aktuell die Chance, von Problemopfern zu Lösungstätern zu werden. Die Coronakrise hat kein absehbares Ende. Unsere Gesellschaft ist lahm und müde geworden über die Zeit und droht auseinanderzubrechen. Wilde Parties, Coronaleugner, Coronahysteriker, Verschwörungserzähler erhitzen die Gemüter und spalten die Gesellschaft. Unsere Gesellschaft ist coronakrank. Wir hoffen auf den Sieg der Medizin und dann auf die Rückkehr zur Normalität: endlich Maske weg, Oma umarmen, Tanzen gehen. Ich frage mich, ob wir die Lösung unserer gesellschaftlichen Misere wirklich von der Medizin, von den Wissenschaftlern erwarten können. Warten wir tatsächlich darauf, dass Technokraten uns durch eine gesellschaftliche Krise tragen?
Ich glaube, die Bewältigung der gesellschaftlichen Krise ist weder von der Intensivmedizin noch von einem Impfstoff noch von gesetzlichen Verordnungen zu erwarten. Warum? Weil andere Pandemien kommen werden und dann werden wir auf andere Impfstoffe hoffen, wieder die Maske im Gesicht, die Kinder wieder ohne andere Kinder, ohne Schule, und unsere Alten werden wieder nicht an Corona sondern an verzweifelter Einsamkeit sterben... nein, die Lösung für unseren Umgang mit unseren Nächsten in den nächsten Krisen können die Technokraten nicht bieten, aber wir können Teil der Lösung sein, wenn wir uns ernsthaft fragen: Wie gehen wir als Gesellschaft miteinander um in einer Krise, deren Ende nicht absehbar ist? Was sind unsere Erfahrungen? Was haben wir, jeder und jede, bisher schon gelernt?


Ich stelle mir jetzt mal die Wunderfrage. Wenn das Virus auf einmal über Nacht verschwunden wäre, woran würde ich das am nächsten Morgen merken? Vermutlich zuerst an den Nachrichten aus dem Radio: keine Neuinfektionen! Und dann? Dass ich wieder in ganze Gesichter sehe! An meinem eigenen Lächeln. Am Lächeln der anderen. Was würde ich als erstes machen ohne Maske? Wen würde ich sofort besuchen? Würde ich anders über Auslandsreisen denken? Würde sich mein Reiseverhalten ändern? Meine Essgewohnheiten? Mein Kaufverhalten? Würde ich mich einmischen beim Tierschutz? Über die Organisation meiner Gesellschaft neu nachdenken? Über Schulen, Kinderheime? Altersheime? In eine Partei eintreten? Würde ich Teil des Wunders, Teil der HEILUNG, würde ich Lösungstäter sein wollen?
Würde ich aufstehen und losgehen?
Oder würde ich so schnell wie möglich zur alten Tagesordnung zurückkehren wollen – Corona endlich vergessen und alles bitte genau wie vor der Pandemie?


Zugegeben. Schwierige Fragen.
Darum zum Schluss nochmal die Gegenprobe:


Angenommen, das Wunder ist da und Corona vorbei, was müssten wir tun, um so schnell wie möglich wieder eine Pandemie zu bekommen?
Dass diese Frage leichter zu beantworten ist, darf uns beunruhigen.


Und der Friede Gottes, der größer ist als unsere Vernunft, sei mit uns allen. Amen.