Monika Borth - »Siehe, schön bist du!« – Kirche und Schönheit, (Hld 1,15)

Liebe Gemeinde,

wir haben gemeinsam die ersten beiden Strophen des wunderschönen Liedes von Paul Gerhardt gesungen:

„Geh aus, mein Herz, und suche Freud...“ Nicht nur die Augen, nein, das Herz soll sich öffnen für die Schönheit in der Natur, denn in ihr offenbart sich Gottes Schöpfertum. Bäume und Blumen werden zu lebendigen Wesen, die sich zum Ruhme Gottes „ausgeschmückt“ haben. Wir sollen mit allen Sinnen hinausgehen und diese Schönheit in uns aufnehmen, von ihr verwandelt werden und selbst einstimmen in das Gotteslob.

Dieses Lied könnte ein Schlüssel zum Verständnis des Hohenliedes sein, dem Lied der Lieder aus dem Alten Testament, das dem König Salomon zugeschrieben wird – eine Sammlung der schönsten Liebeslieder aus dem vorderen Orient, ein kostbarer Schatz einer alten Kultur. (Es wurde aufgrund seiner allegorischen Auslegung in die Heilige Schrift aufgenommen. Diese besagt, dass darin das Verhältnis Gottes zu seinem Volk Israel abgebildet ist.    In christlicher Zeit wurde der Bezug zwischen Christus und der Kirche dafür eingesetzt. Diese Art des Textverständnisses ist jedoch nur ein möglicher Weg. Das Hohelied lässt uns auch die Freiheit, einen eigenen Zugang zu finden. Der Philosoph Franz Rosenzweig schrieb in seinem Buch „Stern der Erlösung“ um 1918: „Die Aneignung des Hohenliedes ist ein religiöser Prozess.“)

Es geht zunächst um Schönheit: zwei Liebende suchen einander voller Sehnsucht und preisen sich in vielen Naturbildern: mit allen Sinnen werden die Vorzüge des anderen wahrgenommen: „Siehe, meine Freundin, du bist schön“, heißt es da. „Deine Augen sind Tauben gleich“, dies lässt auf ein sanftmütiges Wesen schließen, sie ist eine „Lilie unter den Disteln“ – sie ist rein und hat sich bewahrt für den Bräutigam – wie es auch in dem Bild des verschlossenen Gartens zum Ausdruck kommt. Aber auch die Schönheit ihrer Haare, ihrer Brüste und ihrer Füße wird sinnlich besungen.

Die Braut preist den Bräutigam ebenfalls mit schönen Vergleichen aus der Natur: mit herrlichen Blüten, mit dem Apfelbaum, der für Fruchtbarkeit steht, und mit dem schnellsten und anmutigsten Tier, der Gazelle. Er führt köstliche Salben mit sich für das gemeinsame Lager. „Mach dich auf, meine Freundin, meine Schönste, so komm doch!“ wird aus seinem Munde wiederholt.“ Zedern und Zypressen verströmen ihren Duft. Die Liebenden werden sich in einem Garten begegnen, der dem Paradiesgarten gleicht. Ja, man hat den Eindruck einer Rückkehr in jenen Garten, aus dem Adam und Eva einst vertrieben wurden.

Was ist es, das diesen Garten öffnet für die Liebenden?

Die Braut spricht: „Bei Nacht auf meinem Lager suchte ich, den meine Seele liebt.“

Es geht hier um eine Liebe, die aus der Seele kommt und sich zugleich mit allen Sinnen nach Erfüllung sehnt. Sie ist getragen von gegenseitiger Bewunderung und von Ehrfurcht. Es herrscht ein Einvernehmen, eine Harmonie zwischen Mann und Frau, die Frau erscheint dem Mann ebenbürtig. Johann Gottfried Herder hat bereits zur Zeit der Aufklärung darauf hingewiesen, dass diese Aufwertung der Frau im kirchlichen Kontext zu begrüßen sei!

Beim Anschauen der Schönheit werden die Liebenden entzündet und verwandelt, sie besingen einander in einer schönen Sprache, die aus dem Herzen fließt. Sagt man nicht auch: „Wes das Herz voll ist, dem geht der Mund über!“

Weltliches und Geistliches kann nicht voneinander getrennt werden, denn die Sinne sind uns gegeben, um Gott in der Natur und in anderen Menschen zu erfahren. Der Schauende erfährt einen rauschhaften Zustand: „Wie schön ist deine Liebe, wieviel besser als Wein“, heißt es in 4,12.

Im Lied von Paul Gerhard erleben wir auch das Ergriffensein angesichts der Schönheit, wenn wir singen:

„Ich selber kann und mag nicht ruhn, des großen Gottes großes Tun erweckt mir alle Sinnen, ich singe mit wenn alles singt und lasse, was dem Höchsten klingt, aus meiner Seele rinnen.“ Luther sagte einmal: „Wer singt, betet doppelt!“ Die singende Menschenstimme ist ein Spiegel der Seele. Wenn wir singen, bringen wir uns selbst zum Klingen.

Im Hohenlied sagt der Bräutigam zur Braut: „ Lass mich sehen deine Erscheinung, lass mich hören deine Stimme! Denn deine Stimme klingt wohl und deine Erscheinung ist schön.“

Die Stimme klingt schön, weil sie aus der Seele kommt, sie ist aufrichtig und getragen von einem starken Gefühl. Im Ausklang des Hohenliedes stehen die Worte: „Tue mich wie ein Siegel auf dein Herz, wie ein Siegel auf deinen Arm! Ja, stark wie der Tod ist die Liebe. Es geht also um eine existenzielle Erfahrung – und um Treue. So wie die Erfahrung des Todes eine grenzüberschreitende ist, so ist es auch die Öffnung zum anderen hin in der Liebe. Franz Rosenzweig schreibt: „Der Mensch liebt weil und wie Gott liebt. Die menschliche Seele ist die von Gott erweckte und geliebte Seele.“

Man kann also sagen: Das Hohelied ist ein Lehrstück von Schönheit und Liebe, von Sinnlichkeit und Gottesnähe.

Es ist bezeichnend, dass von ihm eine große Wirkung ausging auf die weltliche Kultur und die Religiosität kommender Jahrhunderte. Im Minnesang des Mittelalters wird die wunderschöne, „here frouwe“ besungen und der rauen Ritterwelt gegenübergestellt wird. Durch ihre Verehrung (und Unerreichbarkeit) sollen die Männer erzogen und kultiviert werden.

Die Gottesmutter Maria wird in unfassbarer Schönheit in Bildern und Skulpturen dargestellt. „Von Tugenden strahlend, mit Gnaden erfüllt, mit Sternen geschmücket“ heißt es in einem Marienlied.

Was bedeutet ihre Schönheit für den Betrachter?

Das schöne Bild bringt Marias Reinheit und Vollkommenheit zum Ausdruck und ihre Demut, mit der sie ihr Geschick angenommen hat: „Siehe, ich bin eine Magd des Herrn.“ Sie, die große Liebende und Leidende, wird sich der Menschen erbarmen, so hoffen wir. Viele Gemälde zeigen sie in der Natur – umgeben von Lilien und Narzissen. Die Blumen des Hohenliedes werden zum Sinnbild für Maria. Oder sie erscheint in kosmischer Dimension: von Sternen umkränzt, den Fuß auf eine Mondsichel gestellt. Dieses Bild geht auf die Offenbarung des Sehers Johannes zurück. Maria wird zum schönen, leuchtenden Leitstern über dem Lebensmeer und sie besiegt das Dunkel.

In der geistlichen Minne, in der Mystik des 12 Jahrhunderts, wird das Hohelied als ein Abbild der Beziehung von Christus und Maria gesehen.

Wir sehen, wie die spirituelle Ebene des Hohenliedes weiterlebt, wie äußere Schönheit ein Zeichen ist für seelische Schönheit und wie das im Lied dargestellte Liebesverhältnis immer auch ein Abbild der göttlichen Liebe zum Menschen ist. Doch es ist nicht nur ein bloßes Abbild: Es geht auch darum, dass unsere Sinne dem Himmlischen begegnen und wir mit dem Herzen sehend werden.

Monteverdi mit seiner Musik ist ein gutes Beispiel dafür: In der Marienvesper hat er weltliche Madrigale in geistliche Gesänge umgewandelt, so werden sinnliche und sehr emotionale Züge in die Marienverehrung hineingetragen – wie auch in andere kirchliche Gesänge seiner Zeit. Er erreicht damit die Gefühle, die Herzen der Gläubigen.

Es stellt sich die Frage: Wo erfahren wir in unserem täglichen Leben die Öffnung zum Göttlichen hin über die Schönheit?

In der letzten Zeit wurde in den Kirchen unserer Gemeinde die Passacaglia c-Moll von Bach gespielt. Vielleicht waren Sie bei einem der Konzerte dabei? Ich war schon bei den ersten Klängen in den Bann dieser Musik gezogen: Die Melodie im Bass, der Ostinato, wirkt wie die Stimme Gottes. Über dieser Melodie baut sich ein ganzer Kosmos aus Tonlinien auf, die sich miteinander verbinden, ein vielstimmiger Klang, der den ganzen Kirchenraum erfüllt und im eigenen Körper vibriert. Christi Geburt ist darin enthalten und auch sein Leiden, Engel steigen vom Himmel herab, Sehnsucht nach Erlösung ist zu spüren. Und immer wieder die Grundmelodie, die letztlich allem einen Sinn gibt. Solche Erlebnisse in der Musik können Momente der Gotteserfahrung sein.

Ein anderes Beispiel fällt mir ein: Vor ein paar Wochen gab es ein wunderschönes Fest für die ehrenamtlichen Helfer der Gemeinde. Essen und Trinken in der Heilandkirche! Und: Wir haben getanzt! Jung und Alt, paarweise oder allein, – vor dem Altar! Erst haben sich nur wenige getraut, nach vorn zu kommen, doch es wurden immer mehr, die Freude steckte an. Und wenn man in die Gesichter schaute, sah man eine Mischung aus Staunen und Begeisterung über dieses gemeinsame Tun. Tanz als Gottesbegegnung? Es gibt Beispiele hierfür in alten Kulturen und im Buddhismus! Über die eben erwähnte Passacaglia wird auch gesagt, dass sie das Heilsgeschehen in Form eines Tanzes abbilde, denn sie ist auf dem Dreiertakt aufgebaut. Alle Gaben des Menschen entstammen Gottes Schöpfung, so auch der Tanz!

Der Dichter Friedrich Klopstock schreibt in seiner Ode Der Zürchersee: „Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht/ auf die Fluren verstreut, schöner ein froh Gesicht / das den großen Gedanken / Deiner Schöpfung noch einmal denkt.“

Ein frohes Menschengesicht: Das sehen wir auch, wenn wir jemandem selbstlos unsere Hilfe anbieten. Oder nach einem längeren Gespräch, in dem wir einem Menschen nähergekommen sind, sein Vertrauen gewonnen haben oder wenn wir zu einer Versöhnung gelangt sind nach einem Konflikt.

Kinderjubel – unsere Freude an den unbeschwerten, strahlenden Gesichtern hellt unser eigenes Gesicht auf!

Oder denken Sie daran, wie sie einmal ein neugeborenes Kind im Arm gehalten haben: Es nimmt mit seinen Augen noch keine Einzelheiten wahr, sein Blick kommt von innen, als würde es eine Weisheit mit auf die Erde bringen von weither. Und es ist ein solches Wunder, wie es auf einmal da ist, aus dem geborgenen Sein in der Mutter in die Welt gelangt und unserem Schutz anheimgegeben ist. Wir dürfen es anschauen, staunen, in ihm wird die Schöpfung offenbar.

Es gibt aber auch jene andere Grenzsituation, in denen wir der Ewigkeit gewahr werden: Vor einem Jahr habe ich am Bett eines Sterbenden gesessen, seine Hand in meiner Hand, er konnte nicht mehr sprechen, doch sein Gesicht war schön: Es war voller Würde. Er hatte ein langes Leiden ausgehalten und war dankbar für alles, was Menschen für ihn getan haben in dieser schweren Zeit. Natürlich hatte es auch Schwieriges gegeben in seinem (unserem) Leben, doch in diesen letzten Wochen wurden seine Züge sanft und versöhnlich. Mir fällt dabei das Lied ein: „Wo Menschen sich verschenken, der Liebe bedenken und neu beginnen, ganz neu, da berühren sich Himmel und Erde, dass Friede werde unter uns.“

Kehren wir zurück zum Erleben in der Natur: Ich stehe vor einem alten Baum, dessen Rinde mir von seinem Wachsen erzählt. Ich bewundere seine Standhaftigkeit und Schönheit, die in jedem Jahr aufs Neue hervorbricht. Im Erdreich verwurzelt, zum Himmel strebend – ist er nicht Bild für unser Menschenleben? Friederike Mayröcker schreibt in einem Gedicht: „Was brauchst du? Einen Baum, ein Haus, zu ermessen wie groß wie klein das Leben als Mensch. Wie groß wie klein, wenn du aufblickst zur Krone, dich verlierst in grüner üppiger Schönheit..“

 

Jede/jeder von Ihnen hat sicher Bilder im Kopf von Begegnungen und Erlebnissen, bei denen das Herz weit wurde und Sie gespürt haben, dass sich hinter den Dingen, die Sie wahrnehmen, ein Stück des Ewigen, der Schöpfung Gottes auftut. Diese Sternstunden sollten wir in uns bewahren – nicht nur als schöne Erinnerung, sondern als kostbare Gewissheit, dass solche Offenbarung immer wieder möglich ist. Unsere Unruhe, unsere Ängste und Sorgen verlieren so die Macht über uns.

Paul Gerhardt hat das schöne Sommerlied in einer Zeit geschrieben, die vom 30jährigen Krieg gezeichnet war. Er sah die Zerstörung der Städte und der Natur ringsum. Sein Lied ist eine Ermutigung!

Wenn wir nun weitere Strophen singen, so wollen wir das auch tun im Bewusstsein dessen, dass wir aufgerufen sind diese wunderbare Schöpfung, die hier besungen wird, zu bewahren!

Amen

Monika Borth lebt als freie Autorin in Berlin-Tiergarten. Studium der Anglistik und Germanistik in Berlin, langjährige Tätigkeit am Berlin-Kolleg. Mitglied des Moabiter Motettenchores. Einsatz für die Ökumene.

Literarische Projekte: Bilder und Symbole in der Marienverehrung (Broschüre zur Ausstellung AVE MARIA 2015 von Helen Schmidt in der Heilandkirche) / Gedichte in Literaturzeitschriften / „Ich geh mit dir auf den Federball“ (autobiografischer Roman 2018, Steinkopf-Verlag. Themen: Geschwisterbeziehung in der Nachkriegszeit / Weitergabe von Kriegstraumata). Arbeit an einer Musiker-Biografie („Der Siebte Cellist“, demnächst im Schott-Verlag)