Predigt am Sonntag

Predigt am Sonntag

Predigt am Sonntag

# Aktuelles Seite

Predigt am Sonntag


Predigt zu Amos 5,21–24
27. Februar 2022 Erlöserkirche, Berlin–Moabit 
Pfarrer Christopher Schuller

21Ich hasse, ja ich verabscheue eure Feste,
und eure Gottesdienste mag ich nicht riechen –
22
auch wenn ihr mir Brandopfer darbringt.
Ich habe keinen Gefallen an euren Speiseopfern.

Und euer Mastvieh,
das ihr zum Abschluss als Opfer darbringt,
soll mir nicht unter die Augen kommen.

23
Lasst mich in Ruhe mit dem Lärm eurer Lieder!
Auch euer Harfenspiel mag ich nicht hören!

24
Vielmehr soll das Recht wie Wasser strömen
und Gerechtigkeit wie ein Bach, der nie versiegt.

 

Am 15. November 2021 kam ich in Kiew an und blieb dort eine Woche. Mein Gastgeber Sergey und seine Schwester Yulia hatten einiges mit mir vor - schließlich war es mein erstes Mal da und mein erstes Mal in der Ukraine überhaupt. Ich sollte die Stadt sehen in all ihren Facetten. Und zwei Tage nach meiner Ankunft hatte ich Geburtstag, das sollte auch angemessen gefeiert werden.

Aber der erste Punkt auf der Tagesordnung war: meine Schuhe. Flugreisebedingt habe ich nur ein Paar mitgenommen, wie ich finde, ganz schöne braune Halbstiefel, die ich sonst überall trage, aber Sergey war der Meinung: Nee, das kannst du hier nicht bringen, erstens werden wir viel zu viel zu Fuß unterwegs sein und zweitens gilt so was als uncool in den Bars und Clubs, in die er mich mitnehmen wollte, in den aufstrebenden hippen internationalen queeren Szenen Kiews.

Also hat er mir Sneaker ausgeliehen, schwarz-grau und lila, meine Lieblingsfarbe.

Und ich habe die Stadt gesehen. In all ihren Facetten. Nicht nur die Untergrund-Partyszene, sondern auch das berühmte Höhlenkloster. Die deutschsprachige evangelische Kirche aus dem 18. Jahrhundert, sie steht in der Luther-Straße (wo sonst!), direkt gegenüber dem Tor zum Präsidialamt der Ukraine. Kiew ist eine durch und durch europäische Metropole, mehr als ein bisschen wie Warschau, wenn Sie es kennen, mit etwas mehr Bergen.

Und mein Geburtstag wurde angemessen gefeiert. Für meinen Geschmack gar etwas überschwänglich, gleich um Mitternacht, mit Kuchen und Kerzen und Gesang und georgischem Sekt.

*

Ich habe nicht glauben wollen, dass Putin den Befehl gibt. Aber er hat es getan. Und als ich am Donnerstagmorgen davon las, waren meine Gedanken sofort bei Sergey und Yulia. Ich schrieb ihm, er meldete sich: sie seien im Keller, ein wenig angepisst über die Gesamtsituation, aber sonst guter Dinge, Sorgen machten sie sich in erster Linie um die Eltern, hunderte Kilometer weiter nach Osten, dort wo es richtig heikel zugeht.

Sorgen machte ich mir aber auch um andere Menschen: denn Putins Regime lässt seit Jahren verschwinden, wer ihm unangenehm ist oder eine Bedrohung darstellt. Putins Regime drückt ein Auge zu, wenn schwule Männer angegriffen und gefoltert werden. Putins Regime sperrt Frauen ein, die gegen die traditionelle, männerdominierte Geschlechterordnung Protest erheben.

Und ich dachte an meine Amtsbrüder - es sind ja nur Brüder - in der Orthodoxen Kirche Russlands. Ob sie ihre Stimmen gegen diesen Krieg erhoben haben? Vielleicht wenigstens im stillen Gebet? Ob sie Panzer und Raketen vor dem Einmarsch gesegnet haben, davon gibt’s auch Bilder im Internet.

Aber nicht nur diese Gottesdienste und Rituale missfallen dem Gott, der im heutigen Predigttext im Buch Amos spricht. Denn zu dem Schmerz und der Sorge um die Menschen in der Ukraine kam in diesen Tagen bei mir auch eine Wut über die deutsche, die europäische, die westliche Antwort auf Putins Angriff.

Denn Gottesdienst wird auch gefeiert im Saal des UN-Sicherheitsrats: ein verstaubter Ritus mit Gesten und Worthülsen und mottenzerfressenen Kostümen, wo nur selten der Heilige Geist in einer Predigt über Frieden, Kooperation, Dialog oder Multilateralismus mitschwingt.

Deutschland legt Sanktionen und beherzte Reden auf den Altar des “Friedens”, aber es sind Maßnahmen ohne Wirkung. Ausfuhrsperren für Ölförderungstechnik und Flugzeugteile. Ein paar eingefrorene Konten von Funktionären in der zweiten Reihe im Kreml.

Und hinten im Tempel, bei den Händlern und Geldwechslern, kaufen wir weiterhin russisches Gas in unzählbaren Mengen, und füllen so die Kriegskassen Putins. Wir könnten darauf verzichten. Ja, es wäre hart. Aber es könnte auch härter sein – es könnten in unsere Wohnungen die Raketen einschlagen, wie sie es in Kiew heute morgen tun. Es könnten unsere Söhne sein, die wegen der Armeemobilisierung das Land nicht mehr verlassen dürfen. Aber Deutschland zögert. Die 5000 Helme, die wir der Ukraine im Januar versprochen haben, sind gestern geliefert worden. Gestern erst. Und selbst wegen dieser Helme war die Rede in der deutschen Politik von “Säbelrasseln”. Deutschland zögert. Und bremst die Sanktionsmaßnahmen der europäischen Union.

Ich kann verstehen, dass Gott solche Feste und Dienste nicht riechen will. Denn sie stinken ziemlich stark. 

Und was macht die Kirche? Der EKD-Friedensbeauftragte wirbt noch am Tag des Einmarsches für Putin-Verständnis. Selbst in ihren besten Momenten veröffentlichen Bischöfe, Präsides und Ortspfarrer Statements, Predigten und Gebete, in denen Sie für “Frieden” werben, als gäbe es keinen klaren Aggressor. Und, liebe Gemeinde, nichts würde mich heute morgen mehr erleichtern als Frieden in der Ukraine. Aber Friedensgebete, die sich in ein falsches “auf beiden Seiten” verlieren, wenn ein Land so grundlos angegriffen, ein Volk so in seinem Daseinsrecht bedroht wird, sind ein ziemliches Geplärr, und auch ich möchte sie nicht mehr hören.

Denn dieser Text aus Amos ist kein Friedensgebet. Es ist nicht Luthers “Verleih uns Frieden gnädiglich”, es ist nicht Paul Gerhardts “Befiehl du deine Wege”, kein Ruf des ängstlichen Menschen gen Himmel, keine Hoffnung auf Erlösung in weiter Ferne. “Gib Frieden Herr, gib Frieden” - dieses Lied wird wahrscheinlich ziemlich häufig gesungen in den evangelischen Kirchen Deutschlands heute Morgen, und ich sage: Lass mich in Ruhe mit diesem Lärm. Gott soll Frieden geben? Wie bitte? Friede kommt doch von uns. Frieden wird nicht von höheren Instanzen verliehen wie eine olympische Medaille, er wird erwirkt, forciert, verteidigt durch den Mut von einfachen Menschen, ohne oder mit Gewalt. Amos wusste es, denn dieser Text ist ein Befehl Gottes an die Menschheit:


Lasst das Recht strömen wie Wasser

und die Gerechtigkeit wie ein Bach, der nie versiegt.


Auch wir können Frieden erwirken. Ein Wasserstrom besteht aus unzähligen Tropfen. Auch wir können Aggressor und Opfer beim Namen nennen, und uns nicht verlieren in falschem “Ach ja Putin, aber auch NATO ist schlimm”. Wir können unseren Freunden am Stammtisch und unseren Verwandten am Esstisch widersprechen, wenn sie mit so etwas kommen.

Wir können unseren Abgeordneten schreiben: dreht bitte den Geldhahn zu, auch wenn hier die Preise steigen.

Wir können spenden. Wir können ehrenamtlich tätig werden – die Johanniter bereiten jetzt schon die Unterkünfte für Flüchtlinge vor.

Wir können uns informieren. Ukrainische Stimmen hören. Beten. Ja, beten. Beten hilft, denn beten führt zum Tun.

Und Tropfen für Tropfen beginnt das Recht zu fließen, sammelt sich zu einem Strom. Ein Bach, der nie in Ohnmacht oder Verdrossenheit versiegt.

*

Mein ukrainischer Gastgeber Sergey feiert natürlich auch irgendwann Geburtstag: nämlich gestern. Er wurde 30. Vor diversen Läden habe er heute schon angestanden, meinte er, in der Hoffnung, so was wie einen Geburtstagskuchen aufzutreiben, bislang ohne Erfolg. Georgischer Sekt ist nicht am Horizont, denn die Bankensysteme funktionieren nicht und man komme nicht an Bargeld.

Ich bekam ein Foto aus dem Bunker, eine Art Postkarte aus der gegenwärtigen Situation. Aus seinem Schlafsack guckten dieselben lila Sneaker, die ich eine Woche lang getragen habe.

Und ich sah mich selbst kurz in dem Bunker.

Kiew ist nicht so weit von uns.

Nah genug auf jeden Fall, dass das Recht und die Gerechtigkeit von hier nach dort fließen können.

Und ich werde in der kommenden Zeit mein kleines, schwaches Bestes dazu geben, ein paar Tropfen in einen nie versiegenden Bach.



Amen.

Dies könnte Sie auch interessieren

0
Feed