Die Geschichte der Heilandskirche
Bis 1943 - "unser Licht im Leben, unser Trost im Leiden, unsere Hoffnung im Sterben"
Ab 1830 wandelte sich das ländliche Moabit rapide: In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfolgten besonders nach dem Sieg über Frankreich 1870/71 und der Reichsgründung gewaltige Industrialisierungsschübe. Riesige Fabrikanlagen entstanden in Moabit: Erst die Borsigwerke zwischen Spree und Alt-Moabit, und dann die AEG Fabriken und andere Metallwerke um die Huttenstraße. Mit dem Zuzug der arbeitenden Bevölkerung wuchs auch die Johannisgemeinde als erste Kirchengemeinde der Region. Auf Erlass des Kaisers wurde demzufolge dort, wo die Strasse Alt Moabit und die Turmstrasse sich am nächsten kommen, 1894 auf dem ehemaligen Marktplatz eine neue Kirche als zweite Predigtstätte errichtet.
"Mit allerhöchster Genehmigung Seiner Majestät des Kaisers und Königs legen wir der Kirche den Namen "Heilands-Kirche" bei. Wir wollen damit bezeugen, daß unser Herr und Heiland Jesus Christus der einige Grund- und Eckstein unserer theuren evangelischen Kirche, unser Licht im Leben, unser Trost im Leiden, unsere Hoffnung im Sterben ist." (Gemeindekirchenrat St. Johannis, aus der Grundsteinlegungsurkunde)
Das Kirchenschiff entstand auf kreuzförmigem Grundriss in neugotischem Stil. Breite Seitenemporen sorgten für 1.300 Sitzplätze. Breite bemalte Fenster über den Emporen ließen Licht nur gedämpft herein. Im Altarfenster war der Heiland dargestellt, der einem kranken Kind die Hände auflegte. Über dem mittlern Hauptgewölbe erhob sich ein schlanker hoher Dachreiter. Die Heilandskirche erhielt mit ihrem 91.5 m hohen, schlanken Kirchturm die - neben Georgenkirche (nahe Alexanderplatz, nach dem Krieg abgerissen) und Berliner Dom - dritthöchste Kirchturmspitze, deren extreme Maßverhältnisse von kleiner Grundfläche zu schwindelnder Höhe sich nur selten in der Architektur findet.
Die bis heute erhaltenen Glocken stiftete 1893 die benachbarte Fa. Bolle. Die Inschriften der drei Glocken zitieren je einen Vers aus dem Anfang des 100. Psalms:
GROSSE GLOCKE: Jauchzt dem Herrn alle Welt Ton: h 2.250 kg
MITTLERE GLOCKE: Dienet dem Herrn mit Freuden Ton: dis 1.230kg
KLEINE GLOCKE: Kommet vor sein Angesicht mit Frohlocken Ton: fis 900 kg
1896 wurde die Heilandgemeinde gegründet: ihr Gebiet erstreckte sich von da an westlich, das der Johannisgemeinde östlich der Stromstraße. Das Gemeindehaus wurde 1906, nach sozialdemokratischem Bürgerprotest gegen eine großflächige Zerstörung des mittleren „Kleinen Tiergartens“, nicht neben die Kirche, sondern 300 m westlich an den Rand des Ottoparkes gesetzt. In der Ottostr. 16 wohnten von Beginn an 3 Pfarrer und 3 - 4 Gemeindeschwestern. Es waren eine „Kleinkinderschule“, die Küsterei, der Verein für Misssion, der Blaukreuzverein, der Näh-und Parochialverein untergebracht.
Die neue Gemeinde zählte rasch wieder über 50.000 Seelen. Daher betrieb der Gemeindekirchenrat gleich zu Anfang des 20. Jahrhunderts den Neubau der Reformationskirche. 1907 wurde im Nordwesten die Reformationsgemeinde abgetrennt und gegründet. Nach Abtrennung auch des Südwestens vom ursprünglichen Heilandsgebiet entstand im Jahre 1911 die Gemeinde: Erlöser am Wikingerufer.
Ab 1943 - "mehr als je thut die thätige Liebe noth"
1943 schlug eine Bombe in den Apsisbereich der Heilandskirche ein. Auch der Dachstuhl des Kirchenschiffes und der Turmhelm brannten nach weiteren Luftangriffen aus. Die Kirche stand fast 20 Jahre als Ruine da. Die wertvolle, vielgerühmte Schuke-Orgel von 1929 wurde durch die Witterungseinflüsse weitgehend zerstört.
Infolge großer Spendenfreudigkeit der Gemeinde konnte der Turm schon 1951 neu gedeckt und im Jahre 1960 die Kirche wieder eingeweiht werden. Die vier Ecktürme wurden verkleinert, der Dachreiter entfernt. Die zertrümmerte Apsis wurde abgerissen und das Kirchenschiff verkleinert, der Altar wurde weiter westlich nach vorn versetzt. Die großen Seitenemporen wurden abgerissen, weil die Gemeindegliederzahl schon erheblich abgenommen hatte und nun 675 - 750 Sitzplätze ausreichten. So entstand ein vom neugotischen Zierrat befreites, völlig neues Kircheninneres: Ein heller, schlichterer, klarer, heller und großzügiger Sakralraum mit unverkennbaren Stilelementen der fünfziger Jahre.
Besonders gelungen ist das neue Ost- Kirchenfenster am Übergang zur früheren Apsis: Der süddeutsche Künstler Hans Gottfried von Stockhausen hat das alte christliche Bild der drei Heilskreise (Abraham Bund/ Christus Bund / und Wiederkunft des Lammes im kommenden Reich Gottes) modern und wirkungsvoll mit tief leuchtenden Farben entworfen. Die Altar Bronze-Reliefs stellen auf 5 Tafeln Geschichten zum Thema "Opfer" da, sie stammen von dem Künstler Waldemar Otto.
Die Firma Gerhard Schmid aus Kaufbeuren baute 1962 eine neue große Orgel mit dem Prospekt, der die Gestalt eines großen Engels abbildet. Sie hat 3 Manuale und 46 Register. Seit 1968 besitzt die Gemeinde außerdem ein zweimanualiges Positiv aus der gleichen Werkstatt im Allgäu.
Die Nebenräume auf der Westseite der Kirche wurden ab 2006 zu Gemeinderäumen umgebaut: Dabei entstanden neu ein kleines Kirchenbüro und ein Mehrzweck – Club + Gruppenraum. Das schon bestehende Cafe Thusnelda wurde grundrenoviert. Der vordere Sanitärbereich der Kirche behindertengerecht modernisiert, die Versorgungsleitungen der Kirche, die gesamte Elektrik und die Beleuchtung erheblich verbessert. Die höchsten Kosten verursachte die Sanierung der schon länger maroden Fußbodenheizung. Dazu war es notwendig, den Terrazzo- Boden des 1. Kirchen-Umbaues von 1961 zusammen mit den Kachelfliesen der Ursprungskirche von 1894 abzutragen. Ein aufwendiger neuer Unterbau musste geschaffen werden, bevor Estrich gegossen, Heizungsspiralen gelegt und die neuen dunkelgrünen Fußbodenplatten verlegt wurden. An den Seiten der Kirche wurden in ca. 2m Abstand von den Kirchen-Außenmauern helle Wände bis zur Fenstersimshöhe gezogen, so dass dahinter Stauräume für Stühle und Veranstaltungstechnik entsteht. An der Vorderseite entstehen dadurch große Ausstellungsflächen, z.B. zum Aufhängen von Bildern. Unter der Orgelempore wurden die Voraussetzungen geschaffen, eine Winterkirche bzw. einen Gruppenraum einzurichten. Die Kirche wurde vollständig neu gestrichen, die Außentüren erneuert und nach aufwändigen Wanddurchbrüchen praktische Zugänge zu den hinteren Räumen auf der Ostseite der Kirche geöffnet.
Im Jahr 2016 fusionierte die in ihrem Gebiet weitgestreckte Gemeinde Moabit West, zu der neben den Mitgliedern der Heilandsgemeinde auch die der inzwischen aufgegebenen Reformationsgemeinde gehörten, mit der Gemeinde St. Johannis, mit der Erlösergemeinde und der Kaiser-Friedrich-Gedächtnis-Gemeinde zur Evangelischen Kirchengemeinde Tiergarten.
Im Jahr 2018 werden an und um das Kirchengebäude weitere Bauarbeiten abgeschlossen, die einen barrierefreien Zugang zum Kirchraum, eine Umgestaltung der angrenzenden Außenbereiche und dort auch ein neues Beleuchtungskonzept umfassen.
Die Geschichte der Heilandsgemeinde zwischen 1892 und 1945 wurde im Auftrag der Gemeinde von der Historikerin Ulrike Schilling zusammengetragen: "Mehr als je thut die thätige Liebe noth" (Ulrike Schilling: „Mehr als je thut die thätige Liebe noth“. Die evangelische Heilands Kirchengemeinde in Moabit von 1892 bis 1945. Evangelische Heilandskirchengemeinde Moabit, Berlin 1992)