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Jan Kingreen - Rufe mich an in der Not (Psalm 50,15) - Predigt am 14. Dezember 2019

Abram und Sarai, die wir meistens als Abraham und Sarah kennen, stehen vor einer schweren Entscheidung: Sarah kann keine Kinder bekommen und dennoch wünschen sie sich welche. Beide haben sie das achtzigste Lebensjahr gut überschritten und zu ihrer Zeit gab es die technischen Errungenschaften, die eine späte Geburt ermöglichen, von denen wir verbunden mit prominenten Namen in der Zeitung lesen können, noch nicht.

Anders als heute war es im Alten Orient, wo die Erzählung spielt, durchaus üblich in so einem Fall die Sklavin als Leihmutter zu nutzen. Dieser Schritt beruhte auch nicht auf dem gegenseitigen Einverständnis – zu klar ist die hierarchische an Gewalt gebundene Struktur verankert. Die Magd, die hier Hagar heißt und aus Ägypten kommt, wird Abraham einfach von seiner Frau ins Bett gegeben.

Sie ist die Stellvertreterin. Bei ihr klappt es. Hagar wird schwanger. Doch dann, dann passiert genau das, was auch heute einen Teil der ethischen Diskussion um Leihmütter bestimmt: Das vermeintlich geordnete Beziehungsmuster der drei verschiebt sich. Die so klar bestimmte und vorgeschriebene Hierarchie, die ganze Konstellation gerät ins Wanken und bricht.

Eine nicht unproblematische Situation. Vor allem, wenn man bedenkt, dass Hagar eine Magd ist, eine Sklavin, eine Ausländerin und damit die totale Randfigur ohne eigene Rechte. Als Sarah beschließt, die Konstellation wieder ‚auf Anfang‘ zu setzen und Hagar in die Schranken zu weisen, um die alte Ordnung und Hierarchie wieder einzuführen, flieht diese in die Wüste.

Als Menschen sich vor 2000 Jahren diese Geschichte erzählten, war es eine alltägliche alt-orientalische Familiengeschichte. Die Leihmutterschaft gehörte zur Normalität, und das Ende der Geschichte – die entlaufende Magd kehrt zurück –, stellt die gute patriarchale Ordnung wieder her. Die Geschichte war so alltäglich, dass sie heute in einer seichten Nachmittagsserie laufen könnte.

Auch wenn uns das heute fremd erscheinen mag, könnte die Problemkonstellation – ein verheirateter Mann zeugt ein Kind mit einer anderen Frau, die dann von seiner Ehefrau gedemütigt und verstoßen wird – verbunden mit ausbleibenden Unterhaltszahlungen eine von vielen Geschichten aus der psycho-sozialen Beratung sein.

Für mich liegt die Pointe der Geschichte heute jedoch nicht im anschaulichen Vorspiel und darin abgebildeten familientherapeutisch herausfordernden Handlungsfeld, sondern bei Hagars Not in der Wüste: Ein schwangere Sklavin aus dem Ausland. Ohne Rechte. Hilflos. Verloren. Mutterseelen allein. Sie ist in Not und voller Verzweiflung.

In dieser Tiefe spürt sie, dass Gott sie erhört und sagt: „Du bist ein Gott der mich sieht.“

Hagar fühlt sich gesehen.

Das ist es doch, liebe Gemeinde, worum es heute genauso wie  in früheren Zeiten geht: Wir wollen gesehen werden.

Der Wunsch, gesehen zu werden, kann sich zunächst in einer ganz alltäglichen Situation ereignen: An der Käsetheke im Supermarkt oder beim Drängeln in der U-Bahn – werden wir übersehen und benachteiligt, ist das kaum auszuhalten.

Spannender finde ich jedoch das ‚Gesehen-Werden‘, das sehr eng mit Anerkennung und Wertschätzung zusammenhängt. Sei es im Beruf oder im Privaten, im sozialen Engagement, in der Partnerschaft, in Freundschaften oder in der Familie: „Ich sehe dich, wie du bist“ ist ein emotionale Satz, der mir als Mensch gut tut. Diesen Satz – oft als gelebte Geste – brauche ich, wie ich die Luft zum Atmen brauche.

Daraus jetzt Notwendigkeit materieller Anerkennung in Form von Geld, Geschenken, neuen Schuhen oder einer teuren Uhr oder anderer Statussymbole, aus denen wir auch unser Selbstvertrauen ziehen, abzuleiten, greift zu kurz. Auch ist es nicht das schnelle, kurze hastige und meist unkonkrete Lob, das Lob, das besonders im beruflichen Bereich so durchrutscht („Das hast du aber toll gemacht.“), gemeint.

Sondern es ist die Tiefe, die Vertrautheit, der Spiegel meiner Selbst, der sagt: Ich sehe dich.

Ich sehe dein Engagement, dein Talent, deine Wünsche und Ängste, deine kleinen und großen Bemühungen, deine unabgeschlossene Entwicklung, deine vielen Stärken – kurz: deine Sicht der Dinge. Ich erkenne dich an, so wie du bist. Das tut gut. Daraus ziehe ich Kraft. Das motiviert. Da fühle ich mich gesehen – als ganzer Mensch, der ich bin.

Und dann gibt es diese Momente, die vielleicht einige von Ihnen kennen: Es ist keiner da, der mich sieht. Keiner, und das obwohl überall Menschen um uns herum sind. In Beziehungen, Freundschaften und der Familie macht man auf sich aufmerksam. Man winkt, stampft, reißt sich ein Bein aus und schreit in der Not – wie schon das Neugeborene schreit, um von seiner Eltern ‚gesehen zu werden‘. Und keiner schaut hin. Die Dialoge bleiben an der Oberfläche, das Wesen des Menschen wird in seiner Verschiedenheit zu anderen nicht erkannt oder aus Mutlosigkeit, die vielfachen Spannungen des Gegenübers zu halten, nicht angesprochen.

Und keiner sieht uns und es folgt ein Gefühl von Leere, Traurigkeit, Resignation und Verbitterung.

Hagar, die entlaufene Magd, steht inmitten dieser Gefühle und dort nimmt sie wahr, dass sie sehr wohl gesehen wird. Sie vertraut auf ihren Gott, der sie sieht. Sie vertraut auf ihren Gott, der sie seine Anerkennung spüren lässt. „Du bist“, sagt sie, „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Dieser Gott ist unser Gott. Hier spiegelt sich die menschliche Not, auf der Suche nach Anerkennung nicht gesehen zu werden. Statt die so wichtige – lebenswichtige – Wertschätzung zu erfahren, sozial isoliert und allein zu sein.

Um diese Not zu erleben, muss ich keine ältere Dame sein, deren Freundeskreis zunehmend verstirbt und auch keine junge Studentin, die neu in diese manchmal so furchtbar anonyme Stadt kommt. Diese Not kann mir auch mit 500 Facebook-Freunden, mit ständigen Geburtstagseinladungen und mit einer Großfamilie im Rücken widerfahren.

Und Hagar? Hagar fühlt sich gesehen. Sie spürt ihr Vertrauen, dass jemand da ist, der uns zu jeder Zeit sieht, wie wir wahrhaftig sind. Sie glaubt an Gott.

In Gottes Augen ist der Mensch mehr und anderes als das Bild – oder besser: die vielfältigen Bilder – die sich die Mitmenschen und Institutionen von ihm machen (und denen er kommunikativ entspricht) – er ist sogar mehr als die Bilder, der er sich von sich selber macht. Wie oft handele ich nicht in Übereinstimmung mit meinem ‚wahren Ich‘? Wie oft bin ich mir selbst fremd und denke „Eigentlich bin ich doch ganz anders!“? Dies ist die Vorform des schlechten Gewissens – meine Handlung passt nicht zu meinem Bild von mir.

Dieses ‚eigentlich bin ich doch ganz anders‘ ist im Gottesgedanken aufgehoben. Die Beziehung zu Gott unterscheidet sich von menschlichen Beziehungen, weil sie sieben Tage in der Woche, 24 Stunden am Tag (auch wenn wir es nicht merken) unverbrüchlich und ohne Bedingungen gilt: Wir werden wertgeschätzt und anerkennt. Egal, wer wir sind, wie laut wir schreien, wie wild wir winken und welche Leistung wir bringen.

Ein befreiender Gedanke, der uns sagt, dass die zum Menschen gehörende Suche nach Wertschätzung und Anerkennung nicht vergebens ist.

Auch im Zwischenmenschlichen kann es helfen, wenn ich nicht versuche, in allen Bereichen meines Lebens immer allumfassend gesehen zu werden. Sondern wenn ich, im Vertrauen darauf, dass ich bereits gesehen und angenommen worden bin, ganz bewusst zu den Menschen gehen kann und mich öffne, bei denen ich mich geborgen fühle, bei denen ich weiß, dass sie mich wertfrei sehen können.

Wer häufig die Erfahrung gemacht hat, gesehen zu werden, dem fällt auch das aktive Sehen leichter. Das bewusste Wahrnehmen und Wertschätzen des Gegenübers, der ja genauso bedürftig danach ist, wie jeder andere Mensch auch. Doch auch mit maximaler Empathie ist der Anspruch zu hoch, einen anderen Menschen dauerhaft zu jedem Zeitpunkt so zu sehen, wie er ist. Das schafft kein Mensch – muss er auch nicht, für die allumfassende Sicht steht Gott. Auch das befreit und überführt diesen ethisch hoch anspruchsvollen Gedanken in eine Frage der Haltung: Bin ich bereit, jeden Menschen in seiner ihm eigenen Perspektivlogik zu folgen? Ihn zu sehen, jenseits von sozialen, ökonomischen und kulturellen Schubalden?

Mit dieser Bereitschaft lassen wir Gott in unser Leben, erleben im anerkennenden Sehen Momente göttlicher Qualität – auch wenn wir nicht dazu in der Lage sind, diese dauerhaft zu halten.

Kennen Sie die Redewendung: „Nicht gemeckert, ist genug gelobt.“, die besonders in Süddeutschland, aber auch an der Küste, wo ich herkomme, gern gebraucht wird?

Ich weiß gar nicht, wie weit man noch danebenliegen kann.

Um es kurz zu sagen: Nicht meckern kann jeder, gut loben und dem anderen mit Tiefgang in die Seele schauen, das können nur wenige – und nur einer kann uns das Gefühl, gesehen zu werden, zu jeder Zeit unseres Lebens geben.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen in Christus Jesus. Amen.

Jan Kingreen
- Studium der ev. Theologie und Philosophie in Göttingen und Berlin
- Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Promotion am Lehrstuhl für Systematische Theologie/Religionsphilosophie (HU Berlin)
- Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte, Potsdam
- Koordinator der Gründung des Instituts für Katholische Theologie an der Humboldt-Universität zu Berlin
- daneben: Ausbildung zum systemischen Berater und zum systemischen Coach, Supervisor in Ausbildung
- ehrenamtlicher Berater und Coach in der Lebensberatung im Berliner Dom